Stimme und Ohr für pflegende Angehörige
Interview mit Brigitte Bührlen
(dh-abb) Schnell kann es passieren: Durch einen Unfall oder eine Krankheit ist man auf Unterstützung angewiesen. Meist übernehmen Familienmitglieder diese Aufgaben.
Laut der vom Bundesfamilienministerium in Auftrag gegebenen Allensbach-Umfrage „Monitor Familienleben 2010“ gibt es in Deutschland einen Kreis von mehr als vier Millionen pflegenden und betreuenden Angehörigen. Um all diesen Menschen, die mit ihrer Pflegeleistung persönliche und gesellschaftliche Verantwortung übernehmen, eine Stimme zu geben, hat Brigitte Bührlen im Jahr 2010 die „Wir! Stiftung pflegender Angehöriger“ gegründet. Über ihre Stiftung, ihre Motivation und wichtige Aspekte in der Pflege, zum Beispiel ein barrierefreies Bad, haben wir mit ihr gesprochen.
Aktion Barrierefreies Bad: Frau Bührlen, was hat Sie veranlasst, Ihre Stiftung zu gründen?
Brigitte Bührlen: Ich habe meine demenzkranke Mutter 20 Jahre bis zu ihrem Tod begleitet. Zuerst lebten wir gemeinsam mit meinem Mann und unseren drei Kindern in meinem Elternhaus. Als die Herausforderungen zu groß wurden, und ich sie nicht mehr so versorgen konnte, wie ich es für richtig hielt, war meine Mutter mit einer Heimunterbringung einverstanden. Sie lebte noch 13 Jahre in zwei Heimen.
15 Jahre leitete ich Selbsthilfegruppen von pflegenden Angehörigen. Die von den anderen Mitgliedern gesammelten und vorgetragenen Erfahrungen sowie meine eigenen führten zu dem Entschluss, nach dem Tod meiner Mutter mein Erbe in die Hand zu nehmen und damit die „WIR! Stiftung pflegender Angehöriger“ zu gründen.
Welche Aufgaben hat Ihre Stiftung?
Bührlen: Die Stiftung hat zwei große Ziele. Erstens sollen pflegende Angehörige dazu angeregt werden, sich auszutauschen und ihre Bedürfnisse zu formulieren. Als Lobby formiert sollen sie dann proaktiv werden, um ein Teilnahme- und Mitspracherecht an kommunalen und regionalen Runden Tischen zu erhalten. Dort könnten sie dann ihre Alltagserfahrungen bei Konzeptentwicklungen und anderen Fragestellungen, die ambulante und auch stationäre Pflege betreffen, konstruktiv einbringen.
Zweitens geht es darum, die Arbeit und Erfahrungskompetenz der Pflegenden Angehörigen in den Vordergrund zu rücken und Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft für diese wichtige und wertvolle Arbeit zu sensibilisieren.
Darüber hinaus bietet die Stiftung auf Anfrage Workshops für Pflegekräfte und Angehörige an, ist Kooperationspartner für Lehrstühle und steht Wirtschaft und Politik bundesweit und parteiübergreifend als Ansprechpartner für Veranstaltungen, Hintergrundgespräche etc. zur Verfügung. Als Vorsitzende der Stiftung bin ich Mitglied im Expertenbeirat für Beruf und Pflege des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). Ferner wird ein Beratungstelefon für pflegende Angehörige angeboten.
Wodurch zeichnet sich Ihre telefonische Beratung aus?
Bührlen: Durch sachlich korrekte und zugleich auch erfahrungsbasierte, emphatische und individuelle Beratung. Wir verfügen über ein sehr großes Netzwerk und können daher bei Bedarf auch auf Experten aus unterschiedlichen Bereichen verweisen, die über langjährige Praxiserfahrung und -kompetenz verfügen.
Wie werden die Rechte von zu Pflegenden gewahrt?
Bührlen: Es kann schwierig werden, wenn die zu pflegende Person aufgrund von Einschränkungen ihre Rechte nicht mehr wahrnehmen kann. Denn pflegende Angehörige haben juristisch gesehen keinerlei Rechte, da nur die zu pflegende Person Vertragspartner der Krankenkassen, Pflegedienste etc. ist. Angehörige können nur dann ihre Angelegenheiten regeln, wenn sie von den Betroffenen bevollmächtigt oder als rechtliche Betreuer vom Gericht eingesetzt worden sind. Leider wissen das viele nicht, und es ist schon vorgekommen, dass von Amts wegen eine fremde Person als Betreuer eingesetzt wurde.
Damit die Pflege im Sinne der zu pflegenden Person erfolgt, sollten also frühzeitig Vollmachten erstellt werden. Welche gibt es und wofür eignen sie sich?
Bührlen: Man kann eine persönliche Vorsorgevollmacht für eine Person seines Vertrauens ausstellen. Diese Person sollte man allerdings vorher fragen, ob sie einverstanden ist und die Aufgabe bei Bedarf übernehmen möchte.
Diese Vollmacht sollte sich erstrecken auf die Regelung von finanziellen Angelegenheiten, die Wahl des Aufenthaltsortes, die Regelung medizinischer Angelegenheiten und die Regelung von bürokratischen Angelegenheiten, wie Briefe öffnen, Korrespondenz mit Kassen, Ämtern u. ä. Die Vollmacht sollte über den Tod hinaus gelten.
Falls Vermögen in Form von Immobilien oder größerem Geldvermögen existieren, so kann auch eine notariell beglaubigte Vollmacht erstellt werden.
Wenn keine derartigen privat getroffenen Regelungen existieren, wird im Bedarfsfall eine Betreuung beim zuständigen Amtsgericht eingerichtet. Das Gericht kann einen Angehörigen als amtlichen Betreuer bestellen oder einen ehrenamtlichen Betreuer oder einen Berufsbetreuer. Auf jeden Fall ist die eingesetzte Person dann dem Amtsgericht gegenüber rechenschaftspflichtig.
Welche Rolle spielt aus Ihrer Sicht ein barrierefreies Bad?
Bührlen: Um möglichst lange in den eigenen vier Wänden wohnen zu können, ist Barrierefreiheit von enormer Bedeutung. Eine besonders wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang das Bad. Denn nur wenn es den Bedürfnissen seiner Nutzer Rechnung trägt, ist eine selbstbestimmte alltägliche Lebensführung und auch eine häusliche Pflege möglich. Was in diesem Zusammenhang oft übersehen wird ist, dass das Bad gleichzeitig auch Arbeitsplatz für die Pflegeperson ist. Somit sollte es auch diesen Anforderungen, etwa im Hinblick auf den Platzbedarf, gerecht werden.
Die meisten Bäder in Deutschland sind leider nicht barrierefrei und für die Pflege ungeeignet. Wie sind Ihre Erfahrungen zum Thema Badumbau?
Bührlen: Durch einen Unfall oder eine Krankheit kann jeder von uns plötzlich auf Hilfe angewiesen sein. Aus meiner langjährigen Beratungstätigkeit heraus kann ich sagen, dass die unmittelbare Umgebung baulich oder einrichtungsmäßig äußerst selten auf Veränderungen der Lebensumstände passt. Dann kann es vorkommen, dass man innerhalb kürzester Zeit beispielsweise das Bad umbauen lassen muss. Dies stellt die Angehörigen oftmals vor große organisatorische und finanzielle Probleme. Besser wäre es, wenn Wohnungen grundsätzlich barrierefrei wären oder aber so gebaut oder umgebaut werden, dass Anpassungen bei Bedarf problemlos vorgenommen werden können. Dass sich Ihre Initiative für die diesbezügliche Sensibilisierung der Öffentlichkeit einsetzt, halte ich für sehr wichtig.
In den Kommunen wird pflegenden Angehörigen Unterstützung angeboten, auch wenn es darum geht, den Wohnraum baulich anzupassen. Haben diese Stellen bundesweit einen einheitlichen Namen und sind dort zentrale Ansprechpartner zu finden?
Bührlen: Leider nein. Es gibt keine bundeseinheitlichen kommunalen Anlaufstellen unter einheitlicher Bezeichnung. Hinzu kommt, dass jedes Bundesland andere Regelungen hat.
Zwar wurden seit 2008 bundesweit in verschiedenen Städten sogenannte Pflegestützpunkte eingerichtet, in denen zu allen Fragen rund um das Thema Pflege beraten wird. Allerdings ist dieser Begriff gesetzlich nicht geschützt, und es gibt es auch andere Bezeichnungen für solche Beratungsstellen. Auskünfte erteilen vielerlei Stellen: Pflegedienste, Wohlfahrtsverbände, Pflegekassen, Medizinische Dienste der Krankenkassen (MDK), Nachbarschaftshilfen, Fachstellen für pflegende Angehörige etc. Beratungen werden am Telefon, im Internet oder stationär angeboten. In Städten ist das Beratungsnetz dichter, in ländlichen Gebieten ist es nicht selten recht dünn und löchrig.
Welche Verbesserungen wären in diesem Zusammenhang wünschenswert?
Bührlen: Aus unserer Sicht sollte es in jeder Kommune verpflichtend eine Beratungsstelle geben, in der Ansprechpartner zum Thema Pflege zur Verfügung stehen, die Bürger individuell und situationsbezogen informieren. Ebenfalls sollte dort auch ein „Case Management“ angeboten werden, damit Ratsuchende – wenn sie es wünschen – Schritt für Schritt begleitet werden können. Außerdem könnten wir uns die skandinavischen Länder zum Vorbild für weitere Veränderungen nehmen.
Was machen die skandinavischen Länder besser?
Bührlen: In Deutschland wird die Pflege weitestgehend im Rahmen der gesetzlichen Pflegeversicherung durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber finanziert. Der Pflegebedürftige bekommt, wenn er eine Pflegestufe bzw. ab Januar 2017 einen Pflegegrad hat, Pflegegeld oder Pflegesachleistungen zur Sicherstellung seiner Pflege. Allerdings sind durch die Begrenzung der Leistungssätze der Pflegeversicherung die tatsächlich anfallenden Kosten in vielen Fällen nicht komplett abgedeckt.
Das Pflegegeld kann der Pflegebedürftige geben, wem er will, auch einem Angehörigen. Die Pflegesachleistung ist eine zeitgetaktete Dienstleistung, die durch einen professionellen ambulanten Pflegedienst bzw. eine Tages- oder Nachtpflege geleistet wird.
Die Pflege wird aber überwiegend ehrenamtlich privat geleistet. Analysen zeigen, dass das Arbeitsvolumen in etwa 44 Milliarden Euro Lohnkosten pro Jahr entspricht – dem dreifachen der Kosten, die durch die Pflegeversicherung getragen werden.
Zur Finanzierung des Lebensunterhalts eines pflegenden Angehörigen stehen in der Bundesrepublik im Prinzip keine Mittel zur Verfügung. Dies führt dazu, dass diese Personen – leider überwiegend Frauen – oftmals ihre berufliche Tätigkeit reduzieren oder aufgeben müssen und auf einen Ernährer angewiesen sind. Sie leben dann in finanzieller Abhängigkeit von Familienmitgliedern oder vom Staat. Dies führt viele Frauen in der Folge in die Altersarmut.
Im Gegensatz zu Deutschland, das die Familienpflege durch Angehörige favorisiert, hat in den skandinavischen Ländern Norwegen, Schweden, Dänemark, Finnland und Island die professionelle Pflege Vorrang. Sie ist steuerfinanziert und kommunal organisiert. Aufgrund der hochwertigen kommunalen Pflegeinfrastruktur können die Angehörigen arbeiten gehen, während ihre Angehörigen betreut werden. Sollte ein Familienmitglied ein anderes pflegen, dann bekommt es eine steuerfinanzierte Ausgleichsleistung.
Welche Veränderungen wünschen Sie sich für Deutschland?
Bührlen: Für mich ist die Pflege ein Thema, das Männer und Frauen gleichermaßen angeht, es ist ein Thema über Geldverteilung, über die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf. Pflege ist auch ein altersunabhängiges Thema, denn jeder Bürger kann vom ersten bis zum letzten Atemzug pflegebedürftig sein oder werden. Und Pflegender kann man schon von Kindesbeinen an sein oder bis zum Lebensende werden.
Als BMFSFJ-Beiratsmitglied zum Thema „Beruf und Pflege“ versuche ich deutlich zu machen, dass das Pflegesystem dringend verändert und dem Wandel in der Gesellschaft und den Geschlechterverhältnissen angepasst werden muss. Angehörige werden in Zukunft nicht mehr wie selbstverständlich zur Verfügung stehen, um rund um die Uhr das ganze Jahr über die Basispflege in Deutschland ehrenamtlich sicherzustellen. Frauen sind gut ausgebildet, wollen arbeiten und die Wirtschaft braucht ihre Arbeitskraft. Außerdem haben sich die Familienstrukturen stark verändert. So stehen Angehörige allein schon deshalb als Pflegekräfte nicht zur Verfügung, weil sie nicht mehr im gleichen Ort wohnen. Dieser Trend wird sich in Zukunft noch verstärken.
Ich wünsche mir für Deutschland, dass
- unser Pflegesystem auf Zukunftsfähigkeit überprüft und gegebenenfalls dahingehend korrigiert wird,
- die Pflege ein Thema wird, das auf nationaler Ebene eventuell auch mit einem „nationalen Pflegerat“ angegangen wird,
- sich Gesellschaft und Politik für die Pflegenden einsetzen: für gute Rahmenbedingungen, für eine adäquate Bezahlung der professionellen Pflege sowie für einen finanziellen Ausgleich und individuellere Rahmenbedingungen der „Angehörigenpflege“ auch im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit dem Beruf,
- die WIR! Stiftung dazu beitragen kann, dass sich eine starke Lobby für pflegende Angehörige und unsere pflegebedürftigen Nächsten bildet und sich viele Bürger zum Bespiel in Angehörigengremien kommunal, regional und überregional engagieren.
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Bührlen.